Ursprünglich erschienen im Kölner Stadt-Anzeiger, 2. Oktober 2012. Hier die ungekürzte Fassung. Vielleicht ist ja in diesem Internet genug Platz dafür.
Neun Uhr morgens. An einem Tisch im Flur der Michaeli-Schule sitzt Yannick neben seiner Schulhelferin. Es ist still, die Luft riecht nach Linoleum. Am Ende des Ganges fällt Licht durch ein halbrundes Fenster hoch oben in der gelb gestrichenen Wand. An der Seite sind einige Einräder abgestellt. Ein vergessener Turnbeutel hängt an den Garderobenhaken neben einer Jacke. Drinnen, im Klassenzimmer der Elften, lesen Yannicks Klassenkameraden aus dem mittelalterlichen Parzival und diskutieren über den Charakter des Ritters. Yannick liest draußen, laut, langsam und Buchstabe für Buchstabe. Aus einer Version mit stark vereinfachten Sätzen. Um die Wörter deutlich zu artikulieren, muss er sich anstrengen. Nach kurzer Zeit kehrt er in den Klassenraum zurück, setzt sich zwischen seine Schulhelferin und einen Mitschüler auf seinen Platz in der letzten Reihe. Yannick ist 16 Jahren alt und kam mit Trisomie 21 auf die Welt. Und er ist glücklich in seiner Klasse.
Wenn Yannick schreibt, formt er die schwierigen Wörter mit seinen Händen. Die Gebärdensprache hat ihm geholfen, Schreiben und Lesen zu lernen. Wenn seine Schulhelferin ihn anweist, ein Wort noch einmal zu schreiben, zeigt er mit seinem Daumen auf sie und erklärt: „Mein Boss“. Und wenn er gar keine Lust mehr hat, legt er die Hände vor seinem Körper zusammen und bittet um „Gnade, Euer Lordschaft, Gnade“. Er hat einmal den Diener im Stück „Das Gespenst von Canterville“ gespielt. „Yannick ist lustig und sehr offen“, sagt seine Klassenkameradin Laura Kuth. „Er geht auf jeden zu.“ Immer wieder umarmt Yannick seine Mitschüler. Englischlehrerin Philippa Bertram versucht neue Mitschüler darauf vorzubereiten. „Wenn es zu viel wird, muss man Stopp sagen“, sagt sie ihnen. Gewöhnungsbedürftig sei das nur am Anfang. Alle neuen Klassenkameraden hätten sich schnell auf Yannick eingestellt. Vielleicht führt der Weg in die Klassengemeinschaft sogar über ihn. „Yannick ist ein sehr wichtiger Faktor in der Klasse, und zwar auf der Gefühlsebene“, sagt Siegfried Cremers, dienstältester Lehrer und einer der Gründer der Schule. „In diesem Alter lässt man als Jugendlicher für gewöhnlich seine Gefühle nicht raus. Yannick ist da anders.“ Drei weitere Schüler, die körperlich eingeschränkt sind oder Lernschwierigkeiten haben, gehen in seine Klasse. Eine Sonderpädagogin hilft den Lehrerinnen während des Unterrichts. Oft sind die Erwachsenen zu dritt, mit Yannicks Schulhelferin. In manchen Fächern wie etwa Englisch werden die Förderkinder getrennt unterrichtet.
Immer freitags geht Yannick arbeiten. Auf dem Bauspielplatz im Friedenspark kennt jeder den Jungen, der hier Eis am Stiel verkauft. Bei gutem Wetter aus einer der Bretterbuden, die auf dem Gelände stehen, heraus. An regnerischen Tagen wie diesem an einem Tisch, den er mit den Mitarbeitern vor der Speisekammer im Inneren der Jugendeinrichtung aufgestellt hat. Im Urlaub vor einigen Jahren in Portugal hatte Yannick einen Eisverkäufer beobachtet, der am Strand in einer Holzhütte stand und Eis verkaufte. Die Hütten im Baui, wie das Jugendzentrum genannt wird, fielen ihm ein und Yannick wusste: das will er auch machen. 30 Cent kosten Lutschfinger, Kaktus oder Capri jeweils. Vor Yannick liegt ein Blatt Papier, auf dem Zwanzig- und Zehn-Cent-Münzen in Originalgröße abgebildet sind. Er hält die Münzen eines kleinen Mädchens über die Abbildungen und schaut, ob ihr Geld reicht. Er holt das gewünschte Eis aus der Kühlkammer und hält es seiner kleinen Kundin hin. Als sie danach greift, zieht er das bunt verpackte Eis weg. Yannick lacht. Das Mädchen schaut genervt, bevor sie endlich ihr Eis bekommt. Yannick verbeugt sich, eine Hand vor seinem Bauch. „Das hätte doch keiner gedacht“, sagt Vera Schumacher-Kuhn, Yannicks Mutter, „dass er tatsächlich Eis verkaufen kann.“ Sie sitzt auf einer der Bierbänke im Hof des Bauis, trägt Jeans und Regenjacke, dunkelblonde Haarsträhnen hängen in ihrem Gesicht. Es nieselt. Marietheres Waschk, Leiterin des Bauspielplatzes, setzt sich zu ihr. Gemeinsam haben sie überlegt, wie Yannick Eisverkäufer werden kann. Waschk, genannt MT, gab ihm einen Honorarvertrag: Drei Euro Stundenlohn, drei Stunden Arbeit pro Woche. Inzwischen spricht er vom Führerschein. Yannick will Auto fahren. „Er wird vielleicht noch fünf oder sechs Jahre brauchen“, schätzt Schumacher-Kuhn. Sie sucht immer wieder nach Wegen, Yannicks Wünsche nicht an der Realität scheitern zu lassen. „Einen richtigen Führerschein wird er nicht machen können Aber vielleicht kann er eines dieser Elektroautos fahren, das auf 25 Km/h begrenzt ist.“
Als ihr Sohn anderthalb Jahre alt war, musste Schumacher-Kuhn hart dafür kämpfen, dass Yannick in einen regulären Kindergarten gehen darf. Sie setzte das Kleinkind auf den Schreibtisch des verblüfften Schuldezernenten, um ihrem Wunsch den nötigen Nachdruck zu verleihen. Die Behörden gaben nach. Mit sieben wurde Yannick eingeschult. Eine Schule für „geistig Behinderte“ kam nicht in Frage. Die Michaeli-Schule war weit und breit die einzige, die ihn aufnehmen wollte. Ihr Sohn kann nur Teil dieser Gesellschaft sein, davon ist sie überzeugt, wenn er im Alltag mit nicht-behinderten Menschen zusammen ist. Das gilt auch für die Zeit nach der Schule. „Eltern, die Integration ernst meinen, wollen nicht, dass ihre Kinder in einer Behindertenwerkstatt versteckt werden“, sagt sie. Ab und zu lässt Schumacher-Kuhn durchblicken, wieviel Kraft sie der Kampf für ein halbwegs selbstbestimmtes Leben für ihren Sohn gekostet hat. Nach Yannicks Geburt hat sie acht Wochen gebraucht, um zu akzeptieren, was ihr bevorstand: „Das heißt, du musst ihn konstant fördern“, stellte sie damals fest. Nie wird sie mit dem Kind spielen können, ohne darüber nachzudenken, wofür ihm das gerade nutzen kann. Training der Sprachmotorik und Ergotherapie müssen organisiert werden. Er braucht einen Großteil der Aufmerksamkeit der Familie, nichts entwickelt sich selbstverständlich „Wir mussten ihm beibringen, dass er die Hände nach vorne nimmt, wenn er fällt“, erinnert sie sich. Wie alle Menschen mit Downsyndrom leidet Yannick an vielen Begleiterkrankungen. Herzkrankheiten kommen häufiger vor, sie müssen sich verstärkt mit Hautproblemen herumschlagen. Yannick verträgt kein Gluten, muss auf fast alle Getreideprodukte verzichten. Sie bemüht sich außerdem, dass Yannicks sieben Jahre älterer Bruder nicht zu kurz kommt. Ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse müssen oft zurückstehen. „Wenn ein Down-Kind sich nicht geborgen fühlt, fällt es in der Entwicklung zurück“, sagt sie. Sie hat Geduld gelernt in all den Jahren. Und dass es sich ausgezahlt hat, Yannick nicht zu verstecken: „Er verbreitet Glück“, sagt sie, „er bringt die Menschen zusammen.“
Yannick sitzt neben Sophia Hennig in der Bahn und albert herum. In Weidenpesch, wo Yannick mit seiner Mutter und seinem Vater wohnt, sind sie eingestiegen, in die Linie 12 Richtung Innenstadt. Am Hansaring wollen sie an diesem Nachmittag DVDs kaufen, bevor sich Yannick mit der 25 Jahre alten Sonderpädagogikstudentin an seine Hausaufgaben setzt. „Sophia ist eine alte Oma“, stichelt Yannick. Sophia grinst hämisch zurück. Gleich darauf legt er seinen Arm um sie, schmiegt seinen Kopf an ihre Schulter. Spannungen hält Yannick nicht lange aus. Seit vier Jahren verbringt Sophia jede Woche zwei bis drei Stunden mit Yannick. Seine Eltern haben dadurch etwas Zeit für sich. Sophia kennt ihn gut. Manchmal hat sie genug von ihm und schubst ihn weg. Und sie kennt die Blicke der anderen. „Wir fallen auf, wenn wir zusammen rumlaufen“, sagt sie. Viele starren ihm richtig hinterher, erzählt sie. Nicht selten rücken die Leute zur Seite, wenn sich Yannick neben sie setzt. „Ich dachte, wir wären weiter“, sagt Sophia. Sie kann schwer sagen, was Yannick davon mitbekommt. „Was schaust du mich so an“, hat er jemanden mal ganz direkt gefragt.
Yannick sei ein wahnsinnig selbstbewusstes Kind, sagt seine Mutter über ihn. Er trägt ein Referat vor der ganzen Klasse vor, spielt in einem Theaterstück mit und tritt mit dem Schulzirkus auf. Seine Mitschüler würdigen seine Leistungen, belohnen ihn mit stürmischem Applaus. „Yannick hat uns permanent überrascht“, sagt Schulgründer Cremers. „Er weiß, dass er bestimmte Sachen nicht kann. Nur: Da machte er sich keinen Kopf drum. Vielleicht ist das eine Gnade.“ Ob Yannick seine Behinderung reflektiert, vermag auch seine Mutter nicht genau sagen. Zu Hause sei das kein Thema mehr. Sie hat einmal probiert mit ihm darüber zu sprechen, auf Anregung der Schule. „Yannick, du weißt, dass ihr in der Klasse ein paar Kinder seid, die nicht so schnell lernen, wie die anderen“, setzte sie an. Yannick entgegnete prompt: „Mama, ich bin toll. Und ich bin ein schöner Junge.“ Sie hat es nicht weiter probiert. Was hätte sie ihm auch sagen sollen.