Erschienen am 10. Mai 2014 im Kölner Stadt-Anzeiger
„Die Stadt, die danz, die Stadt, die laach, su wild un su frei“ – Brings’ Hymne ertönt in der Turnhalle der Godorfer Realschule. Im Takt werfen die elf Tänzerinnen die Beine in die Luft und drehen sich dabei im Kreis. Die Mädchen halten sich eng umschlungen. „Es wird nicht gezerrt und nicht gerissen“, ruft Trainerin Elke Schneider. Mühle heißt die Formation, Gardestil die Disziplin, ohne die Karneval kaum vorstellbar wäre. Jelsica trägt an diesem Abend zum ersten Mal Petticoat, Jacke und Hut in den Farben des Garde-Corps Blau- Gelb Colonia. Seit zwei Monaten tanzt die Elfjährige mit, seit 14 Monaten lebt sie in Godorf.
Vor zwei Jahren ist sie mit ihrer Mutter und zwei Schwestern aus Angola nach Deutschland geflohen. Jelsica wohnt im Flüchtlingswohnheim neben der Turnhalle, und sie tanzt gern. Als die Leiterin der Unterkunft nach einem entsprechenden Angebot suchte, war der Kontakt zu Elke Schneider schnell hergestellt. Auch Jelsicas fünfjährige Schwester Natanella darf mittanzen. Gelebte Integration: Obwohl viele Godorfer der geplanten Erweiterung des Flüchtlingsheims in ihrem Ort kritisch gegenüberstehen, engagieren sie sich für die Bewohner, die schon in ihrer Nachbarschaft leben. Sie sorgen dafür, dass auch die Flüchtlinge am Alltag teilhaben können. Zugleich schwinden Berührungsängste auf allen Seiten. Vor ihrem ersten Training fühlte sich Jelsica unwohl, sie hatte Angst vor den anderen Kindern. „Aber die sind alle nett“, sagt Jelsica. Zum ersten Mal hat sie die Gruppe bei einem Karnevalsauftritt gesehen. Einen Teil der alten Choreographie beherrscht sie schon. Die Schritte hat sie sich bei den anderen abgeschaut. Später üben die Kinder ohne Uniform. Nacheinander schlagen sie Räder. Ihre Trainerin steht am anderen Ende der Halle.
„Das können die viel besser ohne mich“, sagt Elke Schneider. Die Tänzerinnen helfen sich untereinander. Ab und zu nehmen die Erfahrenen die Neuen beiseite und zeigen ihnen die Schritte. Die Kinder lernen Teamfähigkeit und Disziplin. Elke Schneider will ihnen aber vor allem vermitteln, dass sie stolz sein können, etwas zu beherrschen, das nicht jeder kann. Die ganze Familie derTrainerin engagiert sich im Verein. Tochter Natascha (20) trainiert die Mädchen bis neun Jahre, Ehemann Uwe ist Vorsitzender des Garde-Corps. „Warum sollen die Kinder aus dem Wohnheim nicht ein bisschen deutsche Tradition kennenlernen“, sagt er. Nachwuchs kann die Garde gut gebrauchen. Die tanzenden Mädchen machen zwei Drittel der 33 aktiven Mitglieder aus. Niemand habe sich gegen die Aufnahme von Jelsica und ihrer Schwester ausgesprochen, sagt Uwe Schneider. Bevor die beiden Mädchen aufgenommen wurden, hatte sich der Vorstand ausgetauscht.
Als Ende 2012 bekanntwurde, dass das Wohnungsamt die Unterkunft erweitern möchte, sprachen sich viele im Ort dagegen aus. Godorf könne nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen, hieß es bei einer Bürgerversammlung. Außer den derzeit 64 Bewohnern des Heimes sind weitere in Godorfer Hotels untergebracht. Kita-Plätze sind knapp, eine Arztpraxis sucht man vergebens, auch die Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist dürftig. Die Godorfer trügen bereits ausreichend zur Unterbringung von Flüchtlingen bei, heißt es vom Bürgerverein. Der Vorsitzende Klaus Kaden gibt nichtsdestotrotz zweimal in der Woche einen Sprachkurs in der Unterkunft.
Auch der Vorsitzende des Garde-Corps hat sich schon im Heim umgeschaut. Sein Fahrrad war verschwunden, er vermutete es im Haus. Ein Bewohner empfing ihn freundlich und lud ihn ein, sich umzusehen. Das Fahrrad war nicht hier. „Ein klassisches Vorurteil“, sagt Uwe Schneider heute. „Wir geben alles dafür, dass es bei uns keine Schranken gibt, dass alle unbelastet hier trainieren können“, sagt er. Und selbstverständlich nehmen die Godorfer Karnevalisten auch Flüchtlingsfamilien auf. Die Uniformen stellt der Verein, an Sponsorengeldern fehlt es nicht im Stadtteil, der von zahlreichen chemischen und erdölverarbeitenden Unternehmen umgeben ist.