Haus, Grund, Macht (2022)

Erschienen in Klatsch! Klartext für Köln, 2022
(Hg. Knut Pries, emons Verlag)

Der Wohnungsmarkt in der Stadt ist praktisch zum Stillstand gekommen. Die innerstädtische Umzugsrate lag 2020 auf dem niedrigsten Niveau seit 1975, die Leerstandsquote bei gerade einmal 0,9 Prozent (2019). Mit diesen Zahlen sind Schicksale verbunden: Menschen, die ihre Wohnung verlieren, deren Lebensumstände sich ändern und die keine neue Bleibe finden. Längst geht es nicht mehr um Balkon oder Terrasse, Duschbad oder Badewanne, Gäste-WC oder Abstellkammer. Betroffen sind Familien, in denen die Eltern im Wohnzimmer schlafen, weil die Kinderzimmer nicht reichen. Paare, die sich trennen und zusammen wohnen bleiben, weil sie keine neue Wohnung finden. Ältere Kölner, deren Kinder längst ausgezogen sind, die aber in ihren zu großen, nicht barrierefreien Wohnungen bleiben, weil sie fürchten, ihr vertrautes Viertel aufgeben zu müssen.

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Stillstand

Mitten in der Kölner Stollwerck-Siedlung stehen Maschinen, die erahnen lassen, wie gigantisch einst die Schokoladenfabrik gewirkt haben muss. Aktivisten besetzten die leerstehenden Fabrikhallen Anfang der 1980er Jahre, um Raum für Kunst und Kultur zu schaffen – ein identitätsstiftender Moment für die Südstadt. Mit einer Modellwohnung wollten die Besetzer zeigen, wie hier günstiger Wohnraum entstehen kann. Ein Resultat dieser sozialen Kämpfe ist der Anno-Riegel, eine in Mehrfamilienhäuser unterteilte Fabrikhalle entlang der Karl-Korn-Straße. In ihm und ringsum entstand bezahlbarer Wohnraum, mitten in der Stadt.

Das angrenzende Severinsviertel, damals ein Sanierungsfall, ist längst heiß begehrt. Und auch dem Stollwerck drohen Aufwertung und Verdrängung. Familien wie die Weisers spüren das unmittelbar. Seit 2010 wohnen Monika Weiser, ihr Mann und vier Kinder in einer Erdgeschosswohnung im Anno-Riegel, 115 Quadratmeter, 1000 Euro Warmmiete. Das Haus wurde 2020 verkauft. Im Jahr darauf endete die Mietpreisbindung ihrer Sozialwohnung. Die Miete darf in solchen Fällen stufenweise an den Mietspiegel angepasst werden, das Wohnrecht ist nicht mehr an eine Einkommensgrenze gebunden.

Der neue Eigentümer, ein Rechtsanwalt und seine Familie, kündigte den Weisers und einigen Nachbarn im Haus wegen Eigenbedarfs. Die Weisers, die beide als Krankenpfleger arbeiten, zogen vor Gericht. Das verschaffte ihnen zwar Aufschub, die Kündigung hat jedoch Bestand. Verzweifelt suchen sie eine familientaugliche und bezahlbare Wohnung. Sie fürchten nicht nur ihr geliebtes Viertel, sondern gleich die Stadtgrenzen hinter sich lassen zu müssen – eine Furcht, die inzwischen die meisten Kölner Mieter kennen.

Bezahlbare Wohnungen sind rar geworden. Nach den Zahlen der Stadtverwaltung sind die mittleren Angebotsmieten von 2009 bis 2019 um 40 Prozent gestiegen. Und die Suche scheitert nicht immer am Geld. Es sind schlicht zu wenig Wohnungen auf dem Markt.

Diese Klemme gibt es auch in anderen Städten. Doch während anderswo Politik und Verwaltung die überkommenen wohnungspolitischen Instrumente systematisch entstaubt haben, laufen die Kölner der Entwicklung hinterher. Das gilt für den Bestand wie für den Neubau.

Jan Üblacker ist Professor für Quartiersentwicklung an der Fachhochschule für die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Bochum. Seine Stelle wird vom Wohnungskonzern Vonovia gestiftet. Zuvor hatte er mit Gentrifizierungsforschern wie Jürgen Friedrichs und Andrej Holm publiziert. Üblacker hat die Kölner wohnungs- und stadtentwicklungspolitischen Diskussionen der vergangenen Jahre analysiert. Sein Fazit: Nur sehr langsam habe sich die Einsicht durchgesetzt, dass der fehlende Wohnraum überhaupt ein Problem sei. Eine der Folgen spitzt er so zu: “Wer besitzt, ist fein raus.” Im Umkehrschluss heißt das: Wer mietet, muss bangen.

Wem gehört die Stadt?

Wer die Stadt künftig bewohnen wird, hängt auch davon ab, wem die Stadt heute gehört. Das gilt nicht nur für die Wohngebäude, sondern führt, wie sich zeigen wird, letztlich zur Frage nach dem Umgang mit Grund und Boden.

Beginnt man mit dem Wohnungsmarkt, stößt man auf die eher begrenzten Möglichkeiten, auf die Vermieter einzuwirken, um den Anstieg der Mieten zu bremsen. Woran das liegt, zeigt ein Blick auf die Struktur des Kölner Marktes. Anhaltspunkte dafür liefern Zahlen aus dem Mikrozensus, die 2011 erhoben wurden (eine neue Befragung wurde im Frühjahr 2022 gestartet).  Die meisten Wohnungen in Köln gehören Privatpersonen, von 539.772 Wohnungen in Köln (2020: 564.776) fast genau drei Viertel.

Das Problem: Sie sind als Akteure schwer zu fassen und reagieren eher träge auf Veränderungen oder Anreize. Konrad Adenauer, Enkel des ersten Bundeskanzlers, ehemaliger CDU-Ratsherr und 2015 im Gespräch als OB-Kandidat, gehört dem geschäftsführenden Vorstand des Kölner Haus- und Grundbesitzervereins an, in dem ein Teil der Einzeleigentümer organisiert ist. Er verteidigt seine Mitglieder gegen den Verdacht, ein Interesse am knappen Wohnungsangebot zu haben und betont ihren stabilisierenden Einfluss. “Unsere Leute sind froh, wenn die Mietverhältnisse lange halten.“

Leichter zugänglich zeigt sich die nächstkleinere Gruppe der Eigentümer. 14,6 Prozent der Wohnungen gehören Wohnungsunternehmen, die mit eher moderaten Renditen kalkulieren. Dazu zählen Genossenschaften, kirchliche Einrichtungen und Unternehmen, die von der Stadt kontrolliert werden, darunter vor allem die GAG Immobilien (1913 als “Gemeinnützige AG für Wohnungsbau” gegründet) mit alleine 45.348 Wohnungen (2021). Ihre Mieten liegen deutlich unter dem Marktdurchschnitt, im Fall der GAG zuletzt bei 7,12 Euro je Quadratmeter.

Üblacker nennt das Unternehmen, in dessen Aufsichtsrat die Ratsfraktionen vertreten sind, ein “Pfund am Markt”. Dass sie auch als Aktiengesellschaft nicht nur für die Rendite wirtschaften muss, darf seit kurzem als gerichtlich bestätigt gelten. 2016 übernahm das Unternehmen auf politische Initiative 1200 Wohnungen in Chorweiler von einem insolventen Finanzanleger. Sie waren so heruntergekommen, dass Minderheitsaktionäre die Wirtschaftlichkeit des Kaufs infrage stellten und ihn gerichtlich überprüfen ließen. Der vom Gericht beauftragte Prüfer wies die Klage zurück und hob hervor, dass der “Gesellschaftszweck” der GAG nicht nur in der Gewinnmaximierung liege, sondern auch das Gesamtinteresse der Kommune umfasse. Die Wohnungen wurden instandgesetzt, das Umfeld aufgewertet. Davon profitiert nicht zuletzt die GAG selber, die in Chorweiler vorher schon rund 3000 Wohnungen besaß.

Von großem Wert sind neben der GAG die Kölner Genossenschaften. Ihre Bestände machen rund sechs Prozent der Wohnungen aus. Weil die Vorstände ihren Mitgliedern verpflichtet sind – in der Regel Anteilseigner und Mieter zugleich – richten auch sie sich nicht alleine nach der Rendite. Ihre Erträge sind gleichwohl stabil, viele der Gebäude sind abbezahlt. Die Genossenschaften tragen damit wie die GAG zur Stabilisierung der Mieten bei. Wer eine Wohnung sucht, dem hilft das trotzdem kaum. Die Zahl der Wohnungsgesuche auf den Listen der GAG liegt aktuell bei rund 13.000. Dem stehen nicht einmal 70 verfügbare Wohnungen gegenüber.

An der fehlenden Dynamik auf dem Wohnungsmarkt werden Schutzsatzungen, “Rettungseinsätze” der GAG und die Genossenschaften nichts ändern. Im besten Fall helfen sie, das Schlimmste zu verhindern. Die Hoffnung liegt deshalb seit Jahren auf dem Neubau.

2017 schloss die parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker ein Bündnis mit der Wohnungswirtschaft. Das Ziel: 6000 neue Wohnungen pro Jahr. Sie erhoffte sich eine Aufbruchstimmung im Markt und in der notorisch überlasteten Verwaltung. Beides blieb aus. Einmal in den vergangenen Jahren kratzte die Zahl der fertiggestellten Wohnungen an der Marke von 4000. Während sich die OB mit dem leicht überprüfbaren Versprechen angreifbar machte, riskierte die Wohnungswirtschaft wenig. Im Gegenteil: Jede Verzögerung schadete der OB, während der Wert der Grundstücke auch unbebaut stieg. Für einige schien das gar das lukrativere Geschäftsmodell zu sein.

“Bauen, bauen, bauen”, hieß es lange aus der Politik, verbunden mit der Forderung nach schnellen Genehmigungsverfahren. “Es reicht aber nicht, einfach nur irgendetwas zu bauen”, sagt Soziologe Üblacker. Den Wohnungsbau betreiben hauptsächlich renditeorientierte Investoren. Die Miet- und Eigentumswohnungen, die ohne Eingriff der öffentlichen Hand entstehen, sind teuer. Damit auch weniger zahlungskräftige Mieter künftig noch Wohnungen finden, folgte Köln schließlich dem Beispiel anderer Städte und setzte auf Vorgaben für den Neubau.

Das kooperative Baulandmodell schreibt seit 2014 eine Quote von 30 Prozent für Sozialwohnungen in Neubaugebieten vor. 2017 wurden die Bedingungen verschärft, Ausnahmen gestrichen, Anreize geschaffen. Inzwischen ist klar: Das reicht nicht einmal, um den verbliebenen Anteil von knapp sieben Prozent zu erhalten. Dabei hätten nach den Zahlen von 2011 knapp die Hälfte der Kölner Haushalte Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein, der Voraussetzung für eine Sozialwohnung ist.

Wenn Michael Weisenstein, Ratsmitglied der Partei Die Linke, über die Wohnungspolitik spricht, klingt er bitter. “Der Mangel interessiert die anderen Parteien einfach nicht”, sagt er. Die politisch beschlossene Quote bestehe nur in der Theorie. Sie gilt tatsächlich erst, wenn für ein Projekt ein Bebauungsplan und damit ein politischer Beschluss nötig ist, wenn also der Rat beispielsweise ein Gewerbegebiet oder einen Acker in Bauland umwidmet. Die Kommune schafft Baurecht, im Gegenzug akzeptiert der Bauträger Bedingungen.

Wie dicht, wie hoch, wie grün; Wohnen, Büros, Ladenlokale, Parkplätze, Spielplätze, Fassaden- und Dachbegrünung, Straßen, Radwege, Entwässerung – die Festsetzungen sind umfassend und detailliert, die Verfahren langwierig. Die Investoren setzen in der Regel alles daran, das zu vermeiden. Oft gelingt ihnen das. Viele der Pläne, die derzeit diskutiert werden, stammen aus der Zeit vor 2017. Sie werden von der Quotenregelung befreit, wenn der Investor beispielsweise hohe Kosten für Bodensanierungen auf alten Industrieflächen geltend machen kann.

Den Investoren käme außerdem zupass, sagt Weisenstein, dass die Bauverwaltung notorisch überfordert sei und sich häufig selbst gegen die aufwändigen Planverfahren ausspreche, wenn die nicht zwingend nötig seien. So fallen laut Weisenstein nur die Hälfte der Bauvorhaben unter die 30-Prozent-Regel. Er schreibt das insbesondere den Grünen und der CDU zu, die mit wechselnden Partnern seit 2014 die Politik im Rathaus gestalten.

Der CDU wirft er vor, sich die Interessen der privaten Investoren zu eigen zu machen. Spenden von Bauunternehmern wie Wolfgang von Moers (WvM), Christoph Gröner (früher CG Gruppe, heute Gröner Group, Mitgeschäftsführer ist seit Mai 2022 der ehemalige CDU-Kanzleramtschef Roland Pofalla) oder dem in New York erfolgreichen und inzwischen in Köln aktiven Investor Christoph Kahl (Jamestown) an die Bundespartei seien ein Indiz für die Nähe der Christdemokraten zur Bauindustrie. Die Mitgliedschaft prominenter Kölner Bauunternehmer in der Partei dürfte ein anderes sein.

Die Grünen ließen unterdessen “keine wohnungspolitischen Impulse erkennen”, sagt Weisenstein über den anderen Partner im Ratsbündnis, der 2020 die meisten Mandate errungen hat. Ähnliche Kritik ist auch aus den Reihen von Volt, der kleinsten Fraktion im Bündnis, und von Aktivisten wie der Initiative “Recht auf Stadt” und dem “Mehr-als-Wohnen-Pakt” zu hören. Offenbar lähmt ein Grundsatzstreit um die klima- und wohnungspolitischen Ziele die Partei. Es wirkt, als könnten zumindest Teile der Kölner Grünen damit leben, wenn die enorme Nachfrage auf dem angespannten Wohnungsmarkt nicht bedient wird.

Volt, die sich als pragmatische Mittler verstehen, sehen sich derweil zur Abgrenzung und zu einem deutlichen Bekenntnis zur wachsenden Stadt genötigt. Die Alternative formuliert Konrad Adenauer vom Haus- und Grundbesitzerverein: “Unterschiedliche Beweggründe, dass Menschen aus der Stadt gezogen sind, gab es schon immer.” Soll heißen: Verdrängung wird auf absehbare Zeit einer davon bleiben.

Die Verantwortung dafür liege bei der Verwaltung, sagt Adenauer. Eine verbreitete Kritik. Für Bebauungspläne, Stadtentwicklung, Liegenschaften und Versorgung mit Wohnraum sind vier verschiedene Dezernenten zuständig. Bauträger warten auf ihre Baugenehmigungen deutlich länger als anderswo. Hinzu kommt: Das Verhältnis zwischen Verwaltung und Politik ist in Köln seit Jahren von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Dennoch sprechen sich inzwischen fast alle Beteiligten dafür aus, dass die Kommune mehr Einfluss auf den Wohnungsmarkt nimmt. Die Stadt, so die wachsende Einsicht, muss anders mit Grund und Boden umgehen, wenn ihre Entwicklung wirklich im Interesse aller gestaltet werden soll.

In privater Hand

Warum die Forderung nach mehr Boden in öffentlicher Hand inzwischen breite Unterstützung findet, zeigt sich besonders deutlich im Mülheimer Süden, wo Marktversagen und die Folgen von Spekulation zu besichtigen sind: längst genehmigte, aber verschleppte Projekte und horrende Bodenpreise.

Sechs Baugebiete wurden im früheren Industriegebiet ausgewiesen. Drei davon gehörten ursprünglich Christoph Gröner. In den Jahren um 2018 trat der deutschlandweit aktive Bauunternehmer in Talk-Shows und einer WDR-Dokumentation über Ungleichheit in Deutschland auf und inszenierte sich als millionenschwerer Unternehmer, aber als “einer, der bauen will”. Damals hieß es in der Kölner Verwaltungsspitze, man brauche Leute wie ihn, um die wachsende Stadt mit Wohnungen zu versorgen. Heute ist Gröner im Mülheimer Süden nur noch für einen kleinen Teil des Geländes zuständig – die Folge einer komplizierten Übernahme und Fusion von drei Unternehmen, aus der schließlich die Adlergroup hervorging. Gröner sei aus dem fusionierten Unternehmen gedrängt worden, weil er die aggressive Bewertung von Bauprojekten für die Aufwertung der Bilanz nicht habe mittragen wollen, lässt er auf Anfrage mitteilen.

Die Adlergroup ist unterdessen ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten, berichtete das „Handelsblatt“ Ende Mai. Bundesweit stehen Bauprojekte des Konzerns still. Ein Erdgeschoss neben Gröners Baustellen verharrt seit Monaten im Rohbau. Andere Grundstücke sollen zum Verkauf stehen, wurden veräußert und wieder zurück übertragen. In manchen Fällen ist der Stadt nicht mehr klar, wer der zuständige Ansprechpartner ist. Gröner schimpft derweil in einem Interview mit dem “Kölner Stadt-Anzeiger” weiter über die träge Bauverwaltung.

Die übrigen Grundstücke in Mülheim sind ebenfalls fast alle weiterverkauft worden, jedesmal teurer. Alle Beteiligten erwarten, dass die steigenden Preise schon für genug Rendite sorgen werden. Die regelrecht explodierten Bodenpreise bestimmen maßgeblich, wie die Flächen nun bebaut werden. Hochhäuser, Holzbauten, vorproduzierte Bauteile für Geschosswohnungsbau: Die Entwickler, die nun tatsächlich bauen wollen, ziehen angesichts des wirtschaftlichen Drucks, zu dem jetzt auch noch die gestiegenen Baukosten beitragen, alle Register. Dennoch: Auch hier zeichnet sich ab, dass weit weniger bezahlbare Wohnungen entstehen werden als benötigt. Die Stadtspitze räumt ein, nicht ausreichend auf die Entwicklungen vorbereitet gewesen zu sein. Man habe aber dazu gelernt, versichert Baudezernent Markus Greitemann.

Stadt und Boden

Das reicht nicht, sagen Aktivisten wie Sascha Gajewski. Er setzt sich mit für eine am Gemeinwohl statt an Renditen orientierte Stadtentwicklung in Köln ein. Ihre Forderungen haben Gajewskis und 22 Kölner Inititativen, Vereinen, Baugemeinschaften in dem „Mehr-als-Wohnen-Pakt“ festgehalten. “Die Stadt kann ihre Macht nur ausüben, wenn sie auch Grundstücke anzubieten hat”, sagt er.

Dafür zuständig ist William Wolfgramm. Der Leiter des Büros der Oberbürgermeisterin, wurde im Juni 2021 zum neuen Dezernenten für die städtischen Liegenschaften, Klima und Umwelt gewählt, auf Vorschlag der Grünen. In einer schriftlichen Mitteilung an den Rat erläuterte er in diesem Frühjahr, wie er die Rolle der Stadt – und seine eigene – einschätzt. Nach seinen Zahlen wurde zwischen 2015 und Mitte 2021 jedes zweite Gewerbegrundstück, das auf den Markt kam, von der Stadt verkauft oder verpachtet. Sie sei damit prägend für die Preise. Anders bei den veräußerten Wohnungsbaugrundstücken. Dort lag ihr Anteil nur bei rund zehn Prozent.

Wolfgramm gibt in der gleichen Stellungnahme den Anteil der Flächen im städtischen Besitz mit 44 Prozent des Stadtgebiets an. Was überwältigend klingt, ist schnell relativiert, wenn man Straßen, Gleise, Parks, Flugplätze, Bahnhöfe, Häfen, Sportanlagen, Landwirtschaft, Wald und Gehölze abzieht. Übrig bleiben Wohn-, Gewerbe- und Industrieflächen. An ihnen besitzt die Stadt einen Anteil von 12,3 Prozent. Nimmt man zusätzlich an, dass alle landwirtschaftlichen Flächen grundsätzlich für Neubausiedlungen umgewidmet werden können, liegt der Anteil städtischer Flächen am bebauten und mit Wohnungen bebaubaren Stadtgebiet bei 23,4 Prozent. Das sind knapp 4600 Hektar. Wieviel Einfluss können Rat und Verwaltung damit ausüben?

Die Entwicklung neuer Wohngebiete läuft derzeit im Wesentlichen in den Projekten Parkstadt Süd (laut aktuellen Überlegungen 3500 Wohnungen neben anderen Nutzungen wie Büros und Gewerbe auf 115 Hektar), Rondorf Nord-West (1300 Wohnungen auf 28 Hektar), Deutzer Hafen (3000 Wohnungen auf 37,7 Hektar), Mülheim-Süd (3600 Wohnungen auf 70 Hektar), Max-Becker-Areal (1700 Wohnungen auf 17,3 Hektar) und Kreuzfeld (3000 Wohnungen auf 80 Hektar). Im städtischen Eigentum befinden sich der größte Teil von Kreuzfeld, der Großmarkt, der für die Parkstadt Süd weichen soll, und, über eine städtische Tochtergesellschaft, der Deutzer Hafen. Inzwischen gilt für fast alle Vorhaben, dass 30 Prozent Sozialwohnungen entstehen sollen.

Um auch für mittlere Einkommen Wohnraum zu schaffen und die Mieten auf lange Zeit zu binden, haben Wolfgramms Mitarbeiter in diesem Jahr einen politischen Auftrag umgesetzt, der den Umgang mit städtischen Grundstücken umkrempelt. Lange galt das Liegenschaftsamt hauptsächlich als Einnahmequelle. Städtische Grundstücke wurden an den Höchstbietenden verkauft. Das hat sich geändert. Mittlerweile müssen Käufer Konzepte für die geplante Nutzung entwickeln, die neben dem Preis entscheiden, wer den Zuschlag erhält.

Seit diesem Jahr sollen städtische Grundstücke für den Wohnungsbau grundsätzlich nicht mehr verkauft, sondern stattdessen Erbbaurechte vergeben werden. Das soll Spekulation verhindern und für günstige Mieten sorgen. Scheitern die Bauvorhaben, fallen die Grundstücke an die Stadt zurück. Neben den überall vorgeschriebenen 30 Prozent Sozialwohnungen werden 20 Prozent preisgedämpfte Wohnungen festgeschrieben, im Gegenzug für einen günstigeren Pachtzins. Die Mietpreisbindungen sollen 60 Jahre und damit doppelt so lange gelten als bislang. Neben dem Baurecht werden damit auch der Zinssatz und die Erbpachtverträge mit Bedingungen verknüpft.

Das Manko: Die Zahl der großen Wohnungsbauprojekte auf städtischem Grund ist überschaubar. Der Deutzer Hafen bleibt von der neuen Regel sogar ausgenommen. Die Wohnungen dort werden auf Grundstücken geplant, die der “Modernen Stadt” gehören, einer kommunalen Tochter. Der Beschluss zum Erbbaurecht betrifft aber nur Grundstücke, die sich direkt im Eigentum der Stadt befinden. Im Deutzer Hafen sind zwar Sozialwohnungen und preisgedämpfte Mieten geplant, allerdings nur für 20 Jahre. Danach drohen laut Sascha Gajewski und seinem Bündnis “Mietenexplosion und Umwandlung in teures Eigentum”. 

Entwicklung von unten

Mitten im Mülheimer Süden lässt sich inzwischen beobachten, wie ein entschlossenes Auftreten von Politik und Verwaltung aussehen könnte. Pressetermin im Otto-Langen-Quartier: Baudezernenten Markus Greitemann, 2018 von der CDU nominiert, führt durch die Industrieruine. Auf dem Gelände wurde der Otto-Motor erfunden. Ein Teil gehört inzwischen der Stadt. Greitemann begeistert sich für die Industriearchitektur, die “Stahlbinder mit Unterspannung”, die die verwitterten Hallen der einstigen Motorenwerke tragen. “Die Möhringhalle, das ist schon echte Kunst”, sagt er über eines der denkmalgeschützten Bauwerke. Die Journalisten dokumentieren den Charme der Ruine.

Als der frühere Eigentümer seinen Teil an das Unternehmen des Investors und CDU-Großspenders Kahl verkaufen wollte, machte die Stadt zum ersten Mal von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch. Eine große Mehrheit im Rat, auch die CDU, trug mehrere Beschlüsse mit, um die Stadtverwaltung zum Einstieg in den Kaufvertrag zu bewegen.

Miteigentümer im künftigen Quartier ist das Land NRW. Die Landesregierung hatte sich bislang für einen Verkauf an den Höchstbietenden ausgesprochen. Greitemann schließt nicht aus, in diesem Fall das Vorkaufsrecht erneut einzusetzen, hofft aber mit einer neuen Regierung auf eine andere Haltung. Die Stadt soll, so der politische Auftrag, eine Direktvergabe erreichen und das Grundstück übernehmen. Das Ziel ist eine “gemeinwohlorientierte Entwicklung”. Details sind noch unklar. Greitemann liest von einer Liste die möglichen Wünsche ab: soziokulturelle Nutzungen, niederschwellige Kulturangebote, bezahlbarer Wohnraum.

Anderen geht es ums Grundsätzliche. “Ich würde mir wünschen, dass nicht ein einzelner Investor gottähnlich entscheidet, sondern demokratisch ausgehandelt wird, was mit den sechs Hektar Stadt hier passieren soll”, sagt Marc Leßle. Er ist einer der beiden Köpfe des “Deutzer Zentralwerks der schönen Künste”, das sich für „Stadtentwicklung von unten“ einsetzt, über die üblichen Beteiligungsverfahren hinaus. Vor einem Jahr mussten Leßle und seine Mitstreiter das einigermaßen intakte Verwaltungsgebäude im Otto-Langen-Quartier räumen. Jetzt sollen sie wieder einziehen dürfen. Wolfgramms Liegenschaftsdezernat arbeitet an den “genehmigungsrechtlichen Fragen”. Er sei zuversichtlich, das bald zu lösen. Vor ihm und seinen Kollegen liegt dann die Aufgabe, mit der Stadtgesellschaft ein zeitgemäßes Verständnis davon zu entwickeln, was Gemeinwohl konkret bedeutet, welche Stadtentwicklung dafür nötig ist und wie es gegen andere Interessen durchgesetzt werden kann. Die Spielräume sind umso größer, je mehr Boden der Kommune gehört.